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Herr Schmidt und die Weidenkätzchen

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Walter Schmidt ist ein einsamer Mann. Er ist 45, hat zausiges graues Haar und eine Stirn voll Kummerfalten. In seiner kleinen 2-Zimmer Wohnung wohnt er allein mit seinen zwei persischen Weidenkätzchen. Deren Lieblingsbeschäftigung ist es, sich auf der Fensterbank zu sonnen und den passierenden Straßenbahnen hinterherzumiauen. Gerne werden die Kätzchen auch gestreichelt und gekrault. Auch die Straßenbahnen genießen die Aufmerksamkeit, die ihnen zu Gute kommt, während sie sich über die Schienen winden. Zu Herrn Schmidts Leidwesen kraulen und streicheln sich Lolek und Bolek – so nannte er die puscheligen Tierchen als Reminiszenz an eine glückliche Kindheit vor dem Fernseher – am liebsten gegenseitig. So bleibt Herrn Schmidt nichts weiter übrig als ihnen dabei zuzuschauen – sehr zum Leidwesen der Weidenkätzchen, die sich durch ihn in ihrer Intimsphäre gestört fühlen.

Herr Schmidt träumt davon, dass es eine Frau Schmidt gibt, die auch ihn streichelt und krault, während er den Straßenbahnen nachschaut. Es müsste ja niemand miauen dabei, er wäre schon allein damit zufrieden, wenn es diese Frau Schmidt seiner Träume wirklich gäbe. Verlegen schaut er hinter der Straßenbahn hinterher, in der Hoffnung, Frau Schmidt möge doch einmal aus dem Fenster der Bahn blicken und Herrn Schmidt so für sich entdecken. Jedes Mal, wenn er es wieder rattern hört, fährt er sich verlegen sortierend durchs wüste Haar. Da die Bahn tagsüber im 10-Minuten-Takt vorbeikommt, ist sein Haar bereits total verheddert, weil ihm das Sortieren dank der Widerspenstigkeit der Haare nie so recht gelingt und er ganz ohne Kamm alles nur immer noch schlimmer macht.

Tatsächlich sitzt eine Frau Schmidt in der Straßenbahn. Sie fährt jeden Tag mit der Bahn zum Taubenvergiften in den Park. Sie findet es ungerecht, dass Tauben als die Ratten der Lüfte bezeichnet werden, da sie ein Faible für Rodenden hat, sich aber nichtsdestotrotz von grau in grau gemusterten tief fliegenden Vögeln ungern im Stadtzentrum auf den Kopf kacken lässt. Frau Schmidt heißt nicht wirklich Frau Schmidt, sondern Frau Wöhrl – Lisa Wöhrl. Abgesehen von ihrem makaberen Hobby ist sie eine äußerst liebenswürdige Person. Und auch sie wünscht sich einen netten Herrn Wöhrl an ihre Seite. So einen wie den Herrn Schmidt. Sie ist 38 und arbeitet als Schädlingsbekämpferin. Sie verachtetet ihren Job schon seit ihrer Ausbildung, weil sie abgesehen von Tauben – die sie ja nur in ihrer Freitzeit bekämpft – eine große Tierliebe in ihrem Herzen beherbergt. Vor allem Ratten und Schaben haben es ihr angetan. Zu Hause hält sie sie sich in Terrarien und auf Arbeit muss sie sie totmachen. Das gefällt ihr nicht. Den Mut zu einer Umschulung konnte sie bislang nicht aufbringen. Als sie vor einem halben Jahr arbeitslos war, wollte sie sich etwas anderes suchen, hatte aber kein Glück bei ihrer Suche und war ohnehin etwas orientierungslos. Letztendlich musste sie sich dann bei ihrem jetzigen Arbeitgeber bewerben, weil ihr die Arbeitsagentur mit einer Streichung des Arbeitslosengeldes drohte.

Wenn Frau Wöhrl täglich zweimal mit der Bahn fährt und bei Herrn Schmidt am Haus vorbeikommt, gibt sie ihm unbewusst überhaupt keine Gelegenheit sie zu entdecken. Immer steckt sie mit ihrer etwas groß geratenen Nase tief in der Zeitung. Ihre Lieblingsrubrik ist die mit den Kontaktanzeigen. Auch gibt es bei den Kleinanzeigen eine Rubrik in der man nach Personen suchen kann, die man irgendwo in der Stadt entdeckt hat, jedoch fehlte Mut oder Gelegenheit, sie auch anzusprechen. Frau Wöhrl hofft darauf, irgendwann auch einmal in dieser Rubrik gesucht zu werden. Diese Rubrik trägt den Titel „Kleiner Feigling“. Auch Herr Schmidt hegt insgeheim die Hoffnung, einmal auf diesem Wege gesucht zu werden. Zwischendurch schaut Frau Wöhrl auch immer mal wieder aus dem Bahnfenster. Dummerweise stets exakt zur falschen Seite heraus. Nur einmal müsste sie auf der anderen Seite sitzen, im passenden Moment zur Wohnung mit den spielenden Weidenkätzchen im Fenster hinüber schauen und schon wäre ihr das „Kleiner Feigling“-Gesuch von Herrn Schmidt sicher. Aber das vermeintliche Schicksal ging bislang hier sehr seltsame Wege. Vielleicht wollte das Schicksal ja auch schon längst, dass es erhört und befolgt wird. Und vielleicht wollte das Schicksal die beiden einsamen Herzen längst vereint haben.

Abends liegt Lisa Wöhrl in ihrem Bett, denkt an die schreckliche Mordsarbeit, die sie am nächsten Tag wieder erwartet und versucht sich mit Gedanken an ihren Herrn Wöhrl zu trösten. Da sie sich ihn zwar in den schönsten Farben ausmalen kann, er aber nun faktisch noch nicht in ihr Leben getreten ist, funktiert das mit den tröstenden Gedanken eher mäßig gut. Ein Tierfreund sollte er sein, und zauseliges Haar würde sie süß finden.

Genaugenommen hört Frau Wöhrl bloß nicht auf ihr Schicksal, obgleich es sie laut anschreit. Die Ur-Oma von Frau Wöhrl – Elfriede Wöhrl – hatte ein erfülltes Leben und darf nun ihre Ur-Enkelin als Schutzgeist durch das Leben begleiten. Diese Aufgabe erfüllt sie gemeinsam mit Franz, ihrem Gatten aus der Zeit des letzten irdischen Daseins. Auf telepathischem Wege insistieren sie bereits seit 3 Jahren energisch, ihre Ur-Enkelin solle doch mal zur anderen Seite aus dem Fenster schauen. Aber die Welt heutzutage ist einfach zu laut, als dass Frau Wöhrl das hören würde. Sie spürt es zwar als dezenten Impuls, sich anders zu setzen, doch nimmt sie es nicht ernst, weil sie lieber daran glaubt, ihr Kopf brächte Unfug zutage, als an die nichtkörperliche Geister-Gegenwelt oder wenigstens eine intakte Intuition.

Derzeit sieht nichts danach aus, als könnten Elfriede und Franz bei ihrer Anverwandten Lisa Erfolg haben. Herr Werner Schmidt ist da immerhin so empfänglich, dass ihn seine Schutzgeister Willi und Malke seit drei Jahren täglich ans Fenster bugsieren. Er glaubt an seine Intuition und hat bislang auch noch nicht seine Geduld verloren. Doch nach drei Jahren des Harrens und Haare-Verwüstens treten doch bereits erste kleine Verschleißerscheinungen an seiner Hoffnung auf.

In der Nachbarschaft von Lisa Wöhrl wohnt der 5-jährige Sebastian Wuttke mit seinen Eltern. Die kleine Familie wohnt in einem 2-Familien-Haus. Jörg Wuttke ist Gas-Wasser-Installateur und Henriette Wuttke arbeitet als Toilettenfrau im Kaufhof.

Missmutig geht der kleine Sebastian aus dem Haus. „Herrje, das wird wieder mal ein langweiliger Tag“, denkt er sich. Die ganze letzte Woche war eine einzige Tortur. Und dabei ist er noch im Kindergartenalter. Was sollte das nur später noch geben, wenn Sebastian erst in die Grundschule geht oder noch später ins Berufsleben aufbrechen soll. Die anderen Kinder träumen von ihren Karrieren als Feuerwehrmänner und Astronauten. Sebastian hingegen ist bereits völlig desillusioniert. Astronaut scheint ihm völlig unrealistisch und die Feuerwehr ist doch auch bloß ein Haufen versoffener Spießer. Sebastian kann sich beim besten Willen nichts vorstellen, was ihm später einmal Spaß machen könnte.

Der Kindergarten ging ihm nur auf die Nerven. Tag für Tag die immer gleichen Spielsachen und albernen Stuhlkreis-Spirenzchen. „Der Plumpssack geht um, der Plumpssack geht um“. Sebastian will nichts mehr hören vom ollen Plumpssack. Genervt schaut er in die Runde. „Was müsst ihr alle so debil grinsen“, denkt er. „Das ist doch alles komplett bescheuert“. Später hüpfen Ulrike und Kevin auf Hüpfbällen vergnügt durch den Spielraum. Sebastian lässt gelangweilt ein paar Murmeln eine plinkernde Bahn herunterrollen. Seine Kindergärtnerin legt ihre Hand auf seine Schulter und fragt ihn, was er denn da schönes spiele. „Schönes?“ wiederholt Sebastian verächtlich fragend und verdreht die Augen. „Pah!“

Zäh zieht sich der Kindergartentag wieder hin – wie jeden Tag. Eine einzige Qual für den kleinen Sebastian, der mit den anderen Kindern nichts anzufangen weiß.

Als Sebastian am nächsten Tag wieder zum Kindergarten trottet, steht eine Dame vor ihm. Sie ist etwas altmodisch gekleidet und von einem seltsamen Schimmer umgeben. Sebastian überlegt kurz, ob er sich erschrecken sollte, denn die Frau ist dezent transparent und er kann durch sie hindurch eine Ampel umspringen sehen. Aber weil ihm sowieso unerträglich langweilig gewesen war, entschließt er sich, nicht zu erschrecken, sondern dankbar zu sein für die willkommene Abwechslung. „Hallo, ich heiße Elfriede und ich spreche dich an, weil ich weiß, dass du eine besondere Begabung hast.“ - „Echt, ich bin irgendwie besonders? Ich dachte, um mich herum sind alle einfach nur strunzdösig.“ - „Sei mal nicht so arrogant, die anderen Kinder können ja nichts dafür.“

Transparente Menschen hatte Sebastian bislang noch nicht getroffen und so löchert er Elfriede Wöhrl mit Fragen. „Sind Sie ein Geist?“ – „Ja, das bin ich, aber du kannst mich ruhig duzen, nach dem Tod pfeift jeder auf das Sie.“ – „Kannst du durch Wände gehen?“ – „Ich habe gar keinen Körper mehr, also sind Wände für mich völlig irrelevant.“ – „Warum kann ich dich sehen, wenn du keinen Körper hast?“ – „Ich gebe dir die Illusion, dass du einen Körper siehst, damit du besser mit mir sprechen kannst.“ – „Kannst du mir auch andere Körper vorspielen?“, fragt Sebastian noch und schon steht Elfriede in der Gestalt eines achtbeinigen grün-gelb gestreiften Elefanten mit Taubenkopf und Ziegenfüßen vor ihm. Endlich hat es jemand geschafft, Sebastian zu beeindrucken.

„Dir ist fürchterlich langweilig im Kindergarten und zu Hause, nicht wahr?“ Ja, da kann Sebastian nur zustimmen. Er tut dies stumm, er zieht den linken Mundwinkel nach hinten, wirft seine Stirn in niedliche Kinderfältchen, verdreht die Augen und nickt träge. Elfriede nimmt ihn mit in die Bücherei, für die er eine Mitgliedskarte besitzt, mit der er sonst von seiner Mutter ausgesuchte Bilderbücher ausleiht. Nun aber hilft Elfriede ihm bei der Bücherwahl. Nicht „Die kleine Raupe Nimmersatt“, sondern „Das Kapital“, diverse naturwissenschaftliche Druckerzeugnisse und ein Sprachführer für Kymrisch landen im Korb. „So, das dürfte etwas interessanter für dich sein.“ Die Dame an der Ausgabe guckt etwas verwundert, was der Junge, der sich neuerdings in ihren Augen mit der Luft unterhält, für eine altersungemäße Auswahl getroffen hat. Aber wenn die Luft ihm das empfohlen hat, warum auch nicht?

In den folgenden Wochen verschlingt Sebastian die Bücher. Endlich hat er ein reizvolles Hobby gefunden. Seinen Eltern und den Kindergärtnerinnen fällt auf, dass er sehr viel ausgeglichener erscheint, seit er sich mit der für ihn passenden Literatur beschäftigt. Hin und wieder beschimpft er die anderen Kinder in kymrischer Sprache, aber das stört trotz derbster Ausdrücke niemanden, weil es niemand außer Sebastian selbst versteht.

Nach zwei Wochen weiß Elfriede, Sebastian hat sich mit dem Kindergartenalltag arrangiert, sogar ein paar Freunde gefunden. Nun steht ihm bevor, sich in die Angelegenheiten von Lisa Wöhrl und Walter Schmidt einzumischen. „Also soll ich jetzt zu deiner Ur-Enkelin gehen und Ihr sagen, sie soll mal auf der anderen Seite aus dem Fenster schauen?“, fragt er Elfriede. Inzwischen hat sie ihm beigebracht, nicht mehr laut mit ihr zu sprechen, sondern sich telepathisch mit ihr zu verständigen. Denn auf Dauer für schizophren gehalten zu werden, wäre auch nicht das Wahre für einen Fünfjährigen. „Nein, Lisa wird dich nicht ernstnehmen. Sie denkt, ich lieg als Skelett unter der Erde und gut is’“, antwortet Elfriede. „Wir müssen uns da etwas Subtileres einfallen lassen.“ Sebastian legt seinen Kinderkopf in Grüblerpose. Elfriede muss schmunzeln, denn Sebastian hat diese Pose schon so gut drauf, dass selbst Accessoires wie der Bleistift hinter dem Ohr nicht fehlen. „Wir müssen Lisa dazu bekommen, dass sie aus der Bahn aussteigt, vor dem Haus von Walter“,  fängt Sebastian eine Überlegungskette an. „Wir könnten einen Kampf zwischen Tauben und Ratten arrangieren, da wird sie sicher aussteigen und einschreiten.“ Von Elfriede hat Sebastian schon einiges über Lisa erfahren. Elfriede antwortet: „Die Idee ist gar nicht schlecht, ich kann die Tiere beeinflussen. Aber die Tauben werden sich sicher nur ungern in den Tod schicken lassen von mir. Außerdem darf ich nicht so wahllos Lebewesen für meine Arbeit opfern, wenn es sich vermeiden lässt.“ „Wir können die Bahn entgleisen lassen … oder besser, sie zum Halten bringen.“ „Ja, der Ansatz gefällt mir schon besser.“ Stolz und zufrieden lächelt Sebastian erhobenen Hauptes. Über das Wie müssen noch ein paar Überlegungen angestellt werden.

Sebastian lässt sich von Elfriede zeigen, wo Herr Schmidt wohnt, damit er sich nähere Gedanken machen kann, wie er die Bahn dort so effektiv aufhält, dass die Passagiere aussteigen müssen. Er fragt Elfriede, ob man nicht ein robusteres Tier ausleihen könnte und denkt dabei an einen Elefanten. Doch der Aufwand erscheint ihm selbst dann doch etwas hochgegriffen, und er denkt, er könnte einfach einen Baum fällen und auf die Gleise fallen lassen. Elfriede gefällt es gar nicht, den Jungen mit schwerem Forstwirtschaftswerkzeug hantieren zu lassen, fühlt sich aber augenblicklich selbst inspiriert: „Dass ich da nicht schon längst drauf gekommen bin. Ich kann ein kleines Gewitter bestellen und dann den Baum von einem Blitz fällen lassen, der genau passend auf die Gleise stürzt.“ So ein Wetter hat eine mindestens einwöchige Lieferzeit. „Und wozu brauchst du mich jetzt?“, fragt Sebastian und die Antwort bleibt der freundliche Geist ihm schuldig.

Genau neun Tage später ist es dann soweit. Ab 11 Uhr morgens hängt der Himmel unheilvoll mit dunkelblauen Wolken zu. Walter Schmidt schaut aus dem Fenster, und es schüttelt ihn trotz gut beheizter Räumlichkeiten allein aufgrund der optisch wahrgenommenen Kälte. Doch irgendwie heizt ihn ein optimistisch-euphorisches Vorahnungsgefühl an. Er pfeift frei erfundene wirre Melodien vor sich hin, singt zwischendurch das Wanderlied aus der Schlümpfe-Serie und bewegt sich seit dem Aufstehen nur noch in einem äußerst albern anmutenden Hoppsa-Gang durch die Wohnung. Vom Fenster traut er sich kaum weg. Ganz im Gegensatz dazu seine persischen Weidenkätzchen Lolek und Bolek: Die meiden heute den Fensterplatz, wegen des drohenden Wetterunheils und verkrümeln sich schlicht in Herrchens Bett, um sich dort aneinander zu kuscheln und das Bett mit feinen Härchen zu bestücken. Außerdem geht ihnen ihr aufgekratztes Herrchen auch ein wenig auf die Nerven. Entgeistert schütteln sie nur den Kopf über ihn, wann immer er an ihnen vorbeihoppst.

Lisa Wöhrl muss bis halb drei am Nachmittag sympathische Schädlinge töten. Sie tut dies mit mechanischer Routine und versucht ihr mitfühlendes Empfinden abzuschalten. Minute für Minute arbeitet sie auf den Feierabend hin und fiebert einem freudigen Nachmittag des Taubenvernichtens entgegen. Nach Feierabend nimmt sie nur einen kleinen Snack zu sich – Taubengyros – und setzt sich gleich darauf in die nächste Straßenbahn. Wie immer jene Linie, die bei Herrn Schmidt am Haus vorbei führt. Die Bahn schleicht sich die Straße entlang und ein Grollen macht sich am Himmel breit. Dicke Blitzkonstrukte krampfadern quer über den Himmel und erhellen die ungemütliche Finsternis mit ungemütlichem Lichtspiel. Der Regen bietet einen Härtetest für jede Regenjacke. Menschen rennen fluchend in rekordverdächtigem Tempo von ihren Autos zu ihren Haustüren. Hätten sie sich vorher mit Waschmittel eingeseift, bräuchten sie die Kleidung jetzt einfach nur direkt auf die Leine hängen.

Die Bahn rauscht kurz vorm schmidtschen Hause über die Schienen, da schlägt der Blitz in eine opulente Birke am Straßenrand ein, und die Birke fläzt sich gekappt über die Gleise. Der Bahnführer aktiviert hastig die Bremse, und die Bahn rumpelt im Bremsvorgang gegen die Birke. Ein Rad der vorderen Achse kullert in den zäh fließenden Verkehr und beschädigt die Fahrertür eines alten Citroën, dessen Besitzer sich auf der Stelle freudig händereibend Versicherungssummen ausmalt. Frau Wöhrl fällt bei der ruppigen Begegnung von Bahn und Birke vor Schreck die Birne aus der Hand, an der sie gerade herummümmelt. Der Bahnführer macht nur eine kurze Durchsage, die in Sachen Trockenheit dem Wetter resolut trotzt: „Diese Bahn verendet hier. Bitte aussteigen“. Und so steigen unter Gemotze und Gezeter alle Fahrgäste aus. „Die können uns doch nicht einfach in diesen scheußlichen Regen scheuchen!“. Auch Lisa Wöhrl stapft über Gegengleis und Fahrbahn auf den Bürgersteig. Sie hält sich mit Motzereien zurück, denn aus ihr unerklärlichen Gründen hat sie das Gefühl, hier geschehe gerade etwas äußerst positives. Die ganze Zeit hängen die Augen von Walter Schmidt an ihr. Er kann kaum fassen, was er sieht. Es ist die Frau Schmidt seiner Fantasien. Eine Stimme in ihm sagt, „Das ist sie“. Aus sicherer Entfernung schauen Sebastian und Elfriede zu und klopfen sich in gegenseitiger Anerkennung zufrieden auf die Schultern. Für Außenstehende sieht das mal wieder ein bisschen seltsam aus.

Frau Wöhrl schaut sich um, um zu sehen, wie sie nun zu Fuß weiter in den Park kommt. Denn von dem bisschen Regenwasser will sie sich nicht vom Taubenvergiften abhalten lassen. Ihr Blick fällt auf Herrn Schmidt, der verlegen zur Seite schaut, als er bemerkt, dass sie ihn bemerkt. Ihr Herz puckert, ihr wird heiß. Doch trotzdem geht sie erst einmal los und rempelt kopflos gleich einen ohnehin schon über den erzwungenen Reisestopp verdrossenen Herrn mit Käsebrot an. Das Käsebrot plumpst in eine Pfütze und saugt sich durstig mit Regenwasser voll. Sein Eigentümer wettert zornig los über Lisa Wöhrls Achtlosigkeit. Doch sie bekommt derartiges nicht mehr mit, denn der Mann hinter dem Fenster hat ihre Gedankenwelt okkupiert.

Das Unwetter hat seine Schuldigkeit getan, der Regen stellt seine Regentätigkeit ein, der Himmel klärt sich wieder auf und gibt die strahlende Sonne frei. Die Feuerwehr ist mittlerweile vor Ort und zerstückelt die störende Birke zwecks besserer Beseitigung. Sebastian sieht sich das Ganze an und befindet die Feuerwehr dann doch irgendwie für sinnvoll.

Herr Schmidt setzt sich sofort an den Tisch und formuliert sich eine Annonce zurecht. Er tut sich schwer, die richtigen Worte zu finden und ein Blatt nach dem anderen landet zerknüllt auf dem Boden. Lolek und Bolek haben ihren Spaß daran und dribbeln sich die Papierbällchen gegenseitig zu. „Unter Donner und Blitzen bist du mir in meine Gedankenwelt gesprungen. Ich muss dich wiedersehen…“, helfen die Schutzgeister Malke und Willi Herrn Schmidt bei seiner Formulierung. Und am Ende steht dann eine Anzeige auf dem Papier, die Walter Schmidt mit zittrigen Händen in einen Briefumschlag steckt und an die Kleinanzeigen-Redaktion der Zeitung schickt.

Nicht nur Sebastian und Elfriede lesen die Anzeige anderthalb Wochen später zufrieden in der Zeitung, sondern auch Lisa Wöhrl auf dem Weg zum Taubenvergiften. An dem Tag vergiftet sie die Vögel mit besonderer Euphorie und macht sich danach direkt auf zum Haus von Walter Schmidt. Sie pfeift auf den Chiffre-Quatsch, denn sie weiß noch genau, hinter welchem Fenster sie ihn antreffen kann.

Als Sebastian die beiden dann am nächsten Tag schon Arm in Arm durch den Park spazieren gehen sieht, fasst er überglücklich den Plan, ein parapsychologisches Partnervermittlungsinstitut zu eröffnen, wenn er einmal groß ist.
 
Für Freunde des Happy Ends ist die Geschichte hier zu Ende.
Wem das zu kitschig ist, der liest noch weiter:

Wenige Wochen später geht schief, was nicht hätte schief gehen sollen. Für einen Heiratsantrag backt Herr Schmidt seiner Liebsten einen Kuchen mit einem Verlobungsring. Bei Kerzenschein und zum Klang romantischer Musik von Georg Kreisler erstickt Lisa Wöhrl an dem verschluckten Ring. Bei dem Versuch, sie an den Beinen in die Luft zu halten, um sie mittels Gravitation vom Ring zu befreien, verrenkt sich Herr Schmidt unglücklich einige Gelenke, stürzt dramatisch und bricht sich dabei den Oberschenkelhals. Als er drei Tage neben seiner toten Traumfrau liegt und noch immer keine Hilfe gekommen ist, zieht er aus lauter Verzweiflung Taubengift aus ihrer Handtasche und vergiftet sich. Die Weidenkätzchen ernähren sich von den beiden leblosen Menschenkörpern.
Aber davon muss Sebastian ja nichts wissen.


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Aktualisiert ( Sonntag, 09. Mai 2010 um 13:41 )