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Feuchte Finger

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Werde ich langsam richtig zum Spießer? Es gehört in gewissen sozialen Strukturen ja immer noch zum guten Ton, seinen eigenen Speichel nicht hinunterzuschlucken, sondern ihn um die eigenen Füße zu verteilen. Ich kann es ja verstehen, wenn jemand irgendwo in die Ecke kotzt – im Zweifel ist das das zwar wesentlich unappetitlicher, aber was raus muss, muss halt raus. Aber für alle, die es noch nicht wussten: Eigenspeichel herunterzuschlucken ist nicht schädlich, im Gegenteil, es hält sicherlich sogar den Flüssigkeitshaushalt noch in Balance.

Was ich gestern im Supermarkt mit anhören musste, war aber nochmal eine andere Nummer. Der Herr war seiner Jugend längst entwichen – Coolnesszwang liegt bei ihm mit Sicherheit schon viele Jahre zurück.

Ich stand an einer Bücherwühlkiste und grub mich durch den vergünstigten Lesestoff mit grünen „Mängelexemplar“-Stempeln. Zwei bis drei Meter neben mir stand jemand, der sich quer durch ein paar Zeitschriften blätterte. Dabei spuckte er sich immer wieder deutlich hörbar auf die Finger. Dreimal umblättern, einmal spucken, dreimal blättern, einmal rotzen … Ich war ein klein wenig angeekelt. Nach einer Weile sortierte er die Zeitschrift ins Regal zurück und nahm sich die nächste Form. Wieder das selbe Spiel. Ich muss zugegeben, ich habe nicht genau hingeschaut. Vielleicht hat er auch unliebsames gelesen und nicht auf seine Finger gespuckt, sondern direkt auf die ihm verhassten Zeilen …?

Vor mehreren Jahren war es üblich Zeitungen grundsätzlich mit angeleckten Fingern zu durchblättern – keineswegs jedoch mit geräuschvoll angespuckten. Unsere ganze Familie hat der Reihe nach so die unteren Außenecken der Fernsehzeitung vor dem Austrocknen bewahrt. Diese Sitte scheint irgendwie ausgestorben. Hat sich das Papier verändert? Ich kann mich nicht entsinnen, dass es bei mir einen bewussten Prozess gab, in dem ich mir das bespeicheln der Finger zwecks Zeitschriftenumblättern abgewöhnt habe. Irgendwann habe ich es nicht mehr getan. Und sonst auch niemand mehr. Gibt es dazu soziologische Studien? Gestern wurde mir die Theorie unterbreitet, das hinge mit dem Film „Der Name der Rose“ zusammen, weil dort der Wechsel von Fingerbelecken und Buchblättern zum Tode eines Mönches führte. Vielleicht stand ja auch der alte Herr vom Zeitschriftenregal unter dem anhaltenenden Eindruck dieses Films und bespeichelte seine Finger deshalb nur aus sicherer Entfernung?

Und dann war da noch dieser merkwürdige Typ in der Bahn. Er saß da mit der Mütze bis über die Nase gezogen, so dass nur sein Bart hervorlugte , murmelte vor sich hin, lachte, schnaufte, schniefte. Zwischen seine Beine hielt er einen braunen Kaffeeautomatenplastikbecher. Es schien mir auch zeitweise so, als weinte er. Später war die Mütze hoch, sein Gesicht sah in der Tat etwas gerötet aus. Als ich zu ihm schaute, hielt er sich den Plastikbecher mit der Öffnung über sein linkes Auge. Die ganze Zeit war er auch mit einer heftigen Gestik beschäftigt. Sehr wunderlich.

Überhaupt lassen sich in der Bahn auch immer wieder sonderbare Gestalten beobachten. Letztens stieg mit mir jemand ein, der schon einen etwas desorientierten Eindruck machte. Er fragte mich nach der Uhrzeit; ich antwortete ihm „Zwanzig nach fünf“ (oder wie spät auch immer es, da gewesen war). Er stellte darauf die erschrockene Rückfrage „Morgens oder abends?“. Da war mir klar, dass er doch schwerwiegender verwirrt war. Später machte er ganz kuriose Fuchteleien vor seinem Gesicht und grinste mich an. Zwei Mädels ein paar Sitze weiter zeigten sich irritiert belustigt. Ich schaute mit fragendem Blicke auf. Der Typ antwortete auf meinen Blick, das habe nichts mit mir zu tun, nur mit seinem Kampfsport. Und wieder fuchtelte er mit seinen Fingern vor seinem Gesicht umher und prahlte, dass er Großmeister sei oder sowas. Später stieg ein Bekannter von ihm zu und sie unterhielten sich. Als es an den Oetker-Werken vorbeiging, schimpfte der Mensch, der offenbar unter dem Einfluss einer Psychose stand, auf Dr. Oetker, der ihn doch bloß ihn Ruhe lassen solle – was wolle er überhaupt von ihm – und Adolf Hitler und überhaupt alle …

Wenn ich in solchen Momenten meine Neurosen nicht komplett vergäße, würde ich sie  knuddeln und knutschen aus lauter Dankbarkeit, dass sie keine Psychosen sind.


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Aktualisiert ( Sonntag, 28. Februar 2010 um 15:29 )  

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