Die Sex Pistols mit „God Save the Queen“ auf der Themse – solche und ähnliche Bilder sind es doch, die man im Kopf hat, wenn man von einer Punx-Boots-Tour hört. Das erste Missverständnis, dass wir mit Contra D auf dem Boot spielen sollten, war schnell beiseite geräumt. Wir sollten also erst nach der Bootsfahrt im Erfurter AJZ Banane spielen. Also freuten wir uns auf einen geselligen Ausflug mit anschließendem Gig.
Damit es früh losgehen konnte, trafen wir fünf uns schon am Vorabend im Hause Aldi und Lappi, um zu vermeiden, dass irgendjemand von uns am Morgen nicht rechtzeitig zur Abfahrt am Bahnhof auftaucht. Bei einer Abfahrtszeit von ca. Viertel vor Sechs eine berechtigte Sorge. Mir war klar, wenn ich so früh am Morgen aufstehen muss, dann sollte ich verhältnismäßig früh zu Bett gehen und gleichzeitig auch Sorge dafür tragen, dass ich mich nicht etwa verkatert aus den Federn kämpfen muss. Für mich kein so riesiges Problem.
Andere Bandkollegen hatten eine andere Taktik: Schon am Freitagabend so viel saufen, dass die Übelkeit am nächsten Morgen davon abhält, weiterzusaufen und vor dem Gig zu voll zu sein, um noch gerade stehen zu können. Diese Taktik sorgte dafür, dass, als ich in Aldis Wohnzimmer versuchte Schlaf zu finden, der Obertaktiker zu später Stunde sich daran machte, nochmal sicherheitshalber unsere Songtexte auszudrucken, auf die Technik schimpfte, irgendwann über der Tastatur einschlief und wenige Stunden später laut fluchend und hustend durch das dunkle Zimmer stolperte. Ich versuchte den Lichtschalter schnell zu finden, um ihm etwas Orientierung zu ermöglichen. Aber als ich den Schalter endlich entdeckt hatte, schlief der Trunkenbold bereits quer auf dem Teppichboden.
Entsprechend hundemüde war ich dann auch auf der Fahrt, nachdem ich des Morgens aus der wenig geruhsamen „Nachtruhe“ erweckt wurde. Kaum saßen wir im Zug, wurden auch schon die ersten Biere eröffnet. Mir stand der Sinn nicht nach dieser Art von Frühstück. Vor einiger Zeit lief Lappi mal mit einem auf die Hand tättowierten X auf und verkündete, von nun an Straight Edge zu leben. Wenige Stunden später hielt er das erste Bier seit Anbringung des X in der Hand und überlegte, was er sich über den Buchstaben drüber tättowieren könnte. Nun prangt an der Stelle ein Totenkopf.
Während einer Umsteigestation fiel uns auf dem Bahnsteig die Beschriftung eines Getränkeautomatens ins Auge, der von einer Firma stammte, die von einem gewissen Herrn Geile gegründet wurde. So stand dort geschrieben „Geile Warenautomaten GmbH“. Unter dem Namen stelle ich mir ein anderes Sortiment vor, als bloß eine Auswahl von Getränken. Bei Ikea auf dem Klo ist mir mal ein Automat aufgefallen, aus dem man „Reisemösen“ ziehen konnte.
Als besonders stapazierend entpuppte sich der letzte Streckenabschnitt unserer Zugfahrt. Eine Gruppe Anhänger des Fußballvereins Rot-Weiß-Erfurt gesellte sich in unser Zwischenabteil. Darunter befand sich ein 42jähriger Vokuhila-Träger, dem jedes Kindergartenkind noch Benimmunterricht geben könnte. Permanent gröhlte er laut den Namen seines Vereins, fiel allen Damen, die zur Toilette wollten um den Hals, um ihnen zu erklären, dass wir ja so Linke seien und er ja mehr rechts stehe. „Wir stehen zum Führer und die nicht“ brachte er es auf den Punkt, und schien sich dabei schon sicher zu sein, dass jeder vernünftige Mensch diese Ansicht mit ihm teilte. Er machte fortwährend einen solchen Lärm, dass wir uns sorgten, wir könnten mit unserer Musik gegen seinen Lärmpegel nicht anspielen, egal wo auch immer er sich in der selben Stadt auch aufhielt. Selbst seine mitgereisten Kumpels schämten sich für ihn. Darunter auch jemand, der einem Teil unserer Band seine Tattoos präsentierte. Zu den Tattoos gehörte auch eines der Oi!-Band Loikämie. Beim Hochziehen seiner Oberbekleidung kam dann aber auch sein Landser-T-Shirt zum Vorschein. Eine kurze Diskussion und er erklärte sich anstandslos bereit, dieses auf der Stelle zu entsorgen. Er sei Nazi-Skin gewesen, nun aber geläutert und trüge dieses Shirt nur noch eben so, weil's grad schnell zur Hand war oder so.
Wie groß war da doch erstmal die Erleichterung, als wir endlich in Erfurt am Bahnhof angekommen waren. Aber was uns erwartete, erfüllte uns keineswegs durchgehend mit Begeisterung. Es herrschten noch immer Wind und Kälte, und die Bootstour entpuppte sich als Extremsport-Event. Ein Haufen Punks mit Autoschläuchen saß am Bahnhof, und uns wurde gesagt, wir sollten uns auch Autoschläuche geben lassen um mitfahren zu können. Das war nun alles andere als ein Badewetter, wir hatten keine Hosen zum Wechseln mit und bei den Schläuchen musste man davon ausgehen, kontinuierlich mit dem Arsch im Wasser zu hängen. Aldi und mir war sofort klar: Nö, das machen wir nicht mit. Feder schwankte in seiner Motivation bis zum Start noch ein wenig hin und her und sah dann auch davon ab. „Was soll ich denn mit 'nem Ring auf der Weser!?“ sagte er – aus seiner Heimatstadt Minden war er schließlich gewohnt, dass ein Fluss, der durch die Stadt fließt Weser heißt. In Erfurt hatten wir es mit der Gera zu tun. Und hätte ich gewusst, wie flach dieser Fluss ist, dann wäre ich auch im Leben nicht auf die Idee gekommen, man könne darauf mit einem Ausflugsboot schippern. Eher könnte man mit Anglerstiefeln durch die Gera spazieren gehen.
Lappi und Torxch ließen sich todesmutig auf das Abenteuer ein. Mit Netzen und Schnüren perfektionierten sie ihre Boote. Am Startpunkt gab es auf einer Wiese noch ein kleines Open-Air-Konzert mit Notstromaggregat. Die Band Untenrum, vermutlich aus Erfurt, spielte rotzigen Old-School-Pogo-Punk mit Sängerin. Als Mitsing-Oldie-Klassiker hatten sie Abwärts' „Computerstaat“ im Programm.
Anschließend wurden die Boote zu Wasser gelassen. Nicht alle waren mit den bereits erwähnten Autoschläuchen unterwegs. Ein kleines Team hatte eine Wäschewanne in einen Styroporrahmen gesetzt und sich damit auf die Reise begeben. Jemand anderes wiederum hatte ein Schlauchboot kunstvoll modifiziert incl. Gallionsfigur. Lappi war sich bäuchlings auf seinen Ring und bewegte sich so erstmal keinen Milimeter weiter, weil sein Wassergefährt auf dem Grund auflag. Seine Lederjacke gab er in Verwahrung, seine Lederhose und seine Stiefel behielt er an. Torxch ließ sowohl Stiefel als auch Hose zurück in dem Bewusstsein, dass es unangenehm werden könnte, damit durch die Gera zu schwimmen. Ich hatte jetzt nicht genau auf die Uhr geguckt, wie lange die Bootssportler unterwegs waren. Zwei Stunden Minimum waren das locker.
Wir sahen ein bisschen was von Erfurt, stellten fest, dass die Menschen, die man traf durchweg auskunftsfreudig und freundlich waren. Aber das stellt man ja fast überall als wohltuende Mentalitätstendenz fest, sobald man Westfalen in irgendeine Richtung verlässt. Und Erfurt ist auf den ersten Blick eine sehr schöne Stadt – Bielefeld kann einem im Vergleich leider nur trist vorkommen. Wunderbar urig ist beispielsweise die Krämerbrücke. Geht man über diese Brücke, so merkt man kaum, dass man über eine Brücke geht, denn an ihren Rändern ist sie gesäumt von einer Häuserreihe, in denen sich hauptsächlich kleine Ladengeschäfte befinden. Von außen betrachtet sieht man dann eine Reihe von Balkonen über dem Wasser. Ein wenig weiter flussabwärts soll es noch ein Viertel geben, welches Klein Venedig genannt wird.
Feder, Aldi und ich verbrachten etwas Zeit gemütlich auf der Wiese und Feder schockierte uns fortwährend mit groben Lücken in der Allgemeinbildung und katastrophalem Orientierungssinn. Da gingen wir einmal auf die andere Seite der Brücke und schon wusste er nicht mehr, wie man zurückgelangen konnte. Er konnte auch nicht verstehen, wieso im „Osten“ die Leute alle so komisch sprechen, während wir hier ja alle normal sprechen würden. Allgemeine Erläuterungen zum Thema Dialekt stießen bei ihm auf Skepsis und Ratlosigkeit. Hessisch hielt er für eine von mir erdachte Fantasiesprache und zu Schwaben fiel ihm nur ein: „Schwaben – was ist Schwaben!?“ Den Rest unsereres Thüringen-Aufenthaltes machte ich mir einen Spaß daraus, Feder die Uhrzeit immer auf die Weise mitzuteilen, wie ich sie als Kind während meiner DDR-Aufenthalte auch selten verstanden habe: Dreiviertel Fünf, Viertel Sechs … Und jedes Mal grummelte er ein bisschen mehr, weil er nicht wusste, welche Uhrzeit ich jeweils meinte. Trotz derartiger Neckereien haben wir unsern Feder natürlich lieb.
Als die Ankunft der Boots-Truppe erwartet wurde, kam zuerst zu Fuß ein klitschnasser Torxch in rosa Leggins angetrottet. Er konnte irgendwann nicht mehr, ließ sich ebenjene Hose geben und ist begab sich erschöpft an Land, wo ein Anwohner grad mit der Gartenarbeit beschäftigt war und wohl ziemlich sparsam dreinblickte, als da diese triefende Gestalt aus dem Gebüsch kletterte. Torxch war so aufgebracht darüber, dass ihn erst keiner begleitete, dass er sich mit passierenden Polizisten anlegte und so eine Anzeige wegen Beamtenbeleidigung davontrug.
Lappi hielt durch bis zu Schluss, kam mit triefend nasser Lederhose aus dem Wasser und schimpfte auf die durchgemachten Stapazen. Ich fühlte vom Zusehen schon, wie eine Erkältung langsam in mir aufstieg, die sich nun eine Woche später auf ihrem Höhepunkt befindet.
Feder lag inzwischen schlummernd auf dem Gehsteig und ließ sich nur schwerlich dazu bewegen, sich mit auf den Weg zum AJZ Banane zu machen. Als wir ihn zum Laufen bewegt hatten, schimpfte er, er fühle sich wie eine Marionette. Im Backstageraum des AJZs standen für uns richtige Betten, je eine Schüssel leckerer Tomatensalat und köstlicher ostdeutscher Kartoffelsalat, wie ich ihn seit vielen Jahren nicht mehr gegessen hatte. Dazu für die Vegetarier und Veganer unter uns noch eine pralle Tüte voll mit Schweine-Bockwürsten.
Die Bandmitglieder von Atomkrieg aus Warendorf, waren tags zuvor noch der Meinung, wir müssten auf unserem Weg von Kirchlengern (OWL) nach Erfurt (Thüringen) zwangsläufig an Warendorf (Münsterland) vorbeikommen, wo sie dann zusteigen könnten. Wir konnten uns für die Columbus-Taktik Richtung Westen zu fahren, um im Osten anzukommen, nicht begeistern. So kamen Atomkrieg dann direkt mit dem Auto und hatten den ganzen Bootstour-Kram gleich übersprungen.
Nachdem wir nun also einige Zeit damit zubrachten, uns zu erholen und zu stärken, bzw. noch betrunkener zu werden, ging es gegen Viertel Elf mit Contra D auf die Bühne. Die Reaktion des Publikums war tendenziell eher mau. Aber als wir durch waren, wurde dann doch noch nach Zugaben verlangt. Den Song „Großer Reißverschluss – nix dahinter“, den wir auf der Zugfahrt geschrieben hatten und im Laufe des Konzertes erstmals proben wollten, ließen wir angesichts der zurückhaltenden Reaktionen dann doch zurück. Dass wir für unsere Verhältnisse einen recht guten Gig hingelegt hatten, wollte uns hinterher kaum jemand glauben. Beim Veranstalter machten wir personell einen weitaus besseren Eindruck als musikalisch. Aber damit muss man ja rechnen, wenn man sich OWLs schlechteste Punkband ins Haus holt.
Nach uns spielten noch Atomkrieg und zuguterletzt die Hagener Band Drunken Disaster. Letztere machten einen recht guten Eindruck auf mich. Allerdings war ich so erschöpft, dass ich nur ganz kurz reinschaute, bevor ich mich zur Nachtruhe begab. Die ursprünglich eingeplanten City Rats aus Tel Aviv waren aus mir unbekannten Gründen nicht da und entfielen folglich.
Am nächsten Morgen huschten Aldi und ich mit erhobenen Zahnbürsten an den verwundert dreinblickenden übrigen Punkmusikern vorbei und sangen dabei fröhlich das „Biberlied“ von Randale („Immer schön die Zähne putzen – putze, putze, putzeputz …“).
Hier noch der im Zug verfasste Songtext „Großer Reißverschluss – nix dahinter“, inspiriert von Torxch' Beinbekleidung und etwas holprig im Versmaß:
Du gehst auf Klo
bist voll besoffen
und weißt nicht mehr
welcher Reißverschluss
deinen Pimmel birgt
du reißt einen auf
und findest nichts
dieser Zipverschluss
nur Attrappe ist
Großer Reißverschluss und nix dahinter
Punkerhosen machen das Leben schwer
Großer Reißverschluss und nix dahinter
Bondagehosen und du bist verwirrt
Nun sind sie auf
und zwar fast alle
der Blasendruck
sorgt für Ungeduld
noch ein Moment
dann kommt die Lösung
die ersten Tröpchen
zeigen dir den Weg
Großer Reißverschluss und nix dahinter
Punkerhosen machen das Leben schwer
Großer Reißverschluss und nix dahinter
Bondagehosen und du bist verwirrt